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THERAPY-Magazin
Vom Wachkoma zur Arbeitsfähigkeit durch Vertikalisierung– ein Fallbeispiel

Erfahren Sie, wie die Vertikalisierung einer Patientin im Wachkoma ihr Leben veränderte. Durch gezielte Therapien, innovative Hilfsmittel und unermüdliche Unterstützung wurde der Weg von der Pflegebedürftigkeit zur beruflichen und persönlichen Selbstständigkeit geebnet.

Author
Karin Neidhard
Diplom-Ergotherapeutin und Dozentin
Wie wichtig die Vertikalisierung von Menschen im Wachkoma in der häuslichen Versorgung ist, wird im Folgenden anhand der Altenpflegerin S.S. aufgezeigt, deren damaliger Neurologe beim ersten und einzigen Hausbesuch zu ihrem Ehemann sagte: „Das Kind ist in den Brunnen gefallen, da ist nichts mehr zu machen – ich werde nicht mehr herkommen und auch keine Therapien verordnen”.
Die außerklinische langfristige Versorgung von neurologisch Schwerstbetroffenen im häuslichen Bereich verlangt eine kompetente interdisziplinäre Zusammenarbeit und hohe fachliche Expertise. Nur so können die Betroffenen bestmöglich gefördert und ihre pflegenden Angehörigen maximal informiert wie dazu angeleitet werden, die in der Therapie erarbeiteten Fortschritte in den Alltag zu integrieren.

In der internationalen Fachliteratur ist nachzulesen, dass speziell durch Vertikalisierung
• die Vigilanz und das Bewusstsein positiv beeinflusst werden.
• die 7 Remissionsstufen (nach Gerstenbrand) schneller durchlaufen werden.
• Folgekomplikationen wie Spastik, Druckulcera, Kontrakturen, Dysphagien, Respiratorabhängig­keit etc. durch frühzeitige Mobilisierung ver­-
mie­den oder reduziert werden können.
• das Vegetativum u.a. Kreislaufstabilität, Lungen­-
­belüftung, Harnabfluß und Verdauung positiv beeinflusst werden.
• auch Osteoporose-Pro­phylaxe betrieben wird.
• maßgeblich Raum-Lage-Empfinden, Tiefensensibilität und Körperschema verbessert werden.

Im Dezember 2015 erlitt die Altenpflegerin und Stationsleitung S.S. beim Boxtraining eine Sub­ar­­achnoidalblutung auf Grund der Ruptur eines Aneurysmas der A. communicans posterior rechts. Es wurde eine dekompressive Hemikraniektomie rechts und endovaskuläres Coiling durchgeführt sowie ein Shunt gelegt.
Als Komplikationen entwickelten sich in den darauffolgenden Wochen eine symptomatische Epilepsie nach Hydrocephalus mal­resorptivus, Meningitis, Nachblutungen mit Einblutungen und erneute Shunt-Implantationen. Es wurde zudem eine PEG zur parenteralen Ernährung angelegt, ebenso wurde die Patientin mit einem suprapubischen Katheter versorgt.

S.S. wurde im Februar 2016 wachkomatös nach Hause entlassen, der Ehemann sowie ein ambulanter Pflegedienst betreuten sie. Die Patientin erhielt zwei-mal wöchentlich Physiotherapie per Haus­besuch – sie wurde im Bett passiv durchbewegt. In diesem Zeitraum erfolgte der oben zitierte einzige Hausbesuch des niedergelassenen Neurologen mit seinem vernichtendem Urteil. Im März 2017 lernte ich die damals 42-jährige Mutter zweier schulpflichtiger Kinder in ihrer Eigentums-Dachgeschosswohnung eines Mehrfamilienhauses, in dem auch ihre Eltern und Geschwister mit Familien leben, kennen:

Tetraplegisch, linke Körperhälfte schlaff, rechte Kör­perhälfte spastisch gelähmt, mit Beugekontraktur des rechten Knies, Fehlstellungen durch Beugekontrakturen beider Sprunggelenke, zudem aphasisch aber selbstständig atmend und nicht tracheotomiert. Es war lediglich eine unzuver­­lässige Kommunikation über Augenzwinkern mit dem Ehemann möglich. Auffällig war auch das gestörte Raum-Lage-Empfinden der Patientin, welches sich durch ständiges Halt-Suchen / Anstoßen am Fußende des Pflegebettes äußerte, was wiederum zur Verschlechterung der Fehl­haltung beider Sprunggelenke sowie der Zunahme der Beugekontrakturen bds. führte.

Die beiden pubertierenden Kinder waren sehr verstört, der Ehemann völlig überfordert mit Haushaltsführung, Kindererziehung, Pflege und der an­­geblichen Perspektivlosigkeit seiner ge­liebten Ehefrau, die er auch als Partnerin schmerz­lich vermisste.
Aufgrund meiner langjährigen Erfahrung mit bewusstseins-beeinträchtigten neurologisch Erkrankten erkannte ich das Potential meiner Patientin.
Dadurch ergaben sich folgende ergotherapeutische Behandlungsziele:
• Training und Verbesserung von Ja / Nein-Kommunikation
• Tägliche Mobilisation in den vorhandenen Multi­funktionsrollstuhl
• Kontrakturenbehandlung mit Johnstone-Druckmanschette
• Anbahnung von eigenaktiven Bewegungen
• Verordnung von Hilfsmitteln nach deren Erprobung
• Kontaktaufnahme und Vermittlung einer Logopädin
• Aufklärung und Anleitung der Angehörigen
Folgende Hilfsmittel helfen beim Mobilisieren von Menschen im Wachkoma und bereiten das Vertikalisieren vor:
• OrthoTech-Therapiestiefel mit einsteckbaren Stabilisatoren am Sprunggelenk und hochklapp­baren Zehenkappen mit Klettverschluss, sodass spastisch verkrampfte Zehen von außen leichter gelockert und physiologisch platziert werden können.
• Headmaster Halskrause zur Unterstützung der Kopfkontrolle und Verbesserung des Blickkontaktes im Sitzen und Stehen.
• aufblasbare Johnstone-Druckmanschette zur Ver­­besserung der Wahrnehmung und zur Kontrakturenprophylaxe- bzw. Behandlung.
• Dank des Wechsels zu einem anderen Neuro­logen konnte S.S. nach einigen Wochen leihweise mit einem THERA-Trainer tigo Arm- und Beintrainer versorgt werden. Die Genehmigung durch die Krankenkasse erfolgte erst nach Wider­spruch und Begründungen /  Befürwortung durch den Neurologen und durch mich. Der Ehemann übte täglich mit S.S. am tigo Arm- und Beintrai­ner, wobei sie zunehmend wacher und motivierter eigenaktiv trainierte.
• Im Dezember 2017 erfolgte die 1. Vertikalisie­rung im Rahmen der Erprobung des Steh- und Balance-Trainers THERA-Trainer balo. Wegen ihrer schmerzhaften Beugekontrakturen und Fehl­stellungen konnte die Patientin trotz der Therapie-Stiefel anfangs lediglich 5 Minuten ste­hen. Die vorhandenen Kontrakturen und Sprunggelenk-Fehlstellungen haben sich durch die Vertikalisierung verbessert, sodass sie bis zu den korrigierenden Operationen 15 – 20 Minuten am Stück stehen konnte. Trotz ihrer Schmerzen wollte meine Patientin immer wieder Stehen. Manchmal 3 x 5 Minuten hintereinander, mit Sitzpausen im Rollstuhl, weil ihr das Stehen eine neue Perspektive und Lebensmut gab. Dankenswerterweise konnte der Balance-Trainer über Weihnachten und den Jahreswechsel ausgeliehen werden, so dass S.S. eine lange Erprobungsphase ermöglicht wurde. Das Genehmigungsverfahren durch die Krankenkasse dauerte leider erneut viele Monate. Ich habe die Familienmitglieder und die Kolleginnen der Physiotherapie im Gebrauch des Balance-Trainers angeleitet, um eine maximale Nutzung zu ermöglichen.
Im März 2018 fing meine Patientin an, spontan fehlerfrei zu sprechen.

Im April 2018 begann sie zu essen und zu trinken. Nach anfänglichem Verschlucken normalisierte sich auch dies durch logopädisches Training.

Im Juni 2018 erfolgte das operative Decken des Schädels mit einer künstlichen Kalotte. Diese optische Korrektur war extrem wichtig für ihr Selbst-bild als Frau. Auch ihre Kinder konnten sie jetzt wieder „ohne Grausen” ansehen.

Im August 2018 folgte die operative Korrektur der Beugekontrakturen beider Sprunggelenke und die An­fertigung von Unterschenkel-Orthesen mit Spe­zialstiefeln. Mit ihrer Physiotherapeutin übte unsere Patientin das Gehen am Rollator auf ihrem Balkon. Mit Hilfe der Balance-Funktion des balo-Trainers übten wir die Verbesserung ihres Gleichgewichts – z.B. durch Fangen eines Luftballons im Stand.

Im Oktober 2018 trainierte sie erstmals das Treppensteigen mit Hilfe ihrer Physiotherapeutin und ihres Mannes mit einer Unterarmgehstütze und Unterschenkel-Orthesen.

Im November 2018 wurde die PEG entfernt und im Dezember 2018 folgte die Entfernung des suprapubischen Katheters. Die Kontinenz hatten wir schrittweise mit Bla­sentraining durch Abklemmen des Katheters trainiert.

Im Rahmen einer sechswöchigen stationären Reha im Januar 2019 erlernte S.S. das freie Gehen ohne Orthesen.

Wieder zuhause erfolgte u.a. ein berufsvorbereitendes ergotherapeutisches Training von feinmo­torischen Übungen in Kombination mit Trai­nings­einheiten zur Konzentration sowie der visuell-räumlichen Wahrnehmung. Zusätzlich übte Frau S. unter Ausschluss der Augenkontrolle ihr Raum-Lage-Empfinden nach Prof. Perfetti.

Im November 2019 absolvierte die Patientin ein erfolgreiches Praktikum auf einer geriatrisch internistischen Abteilung des Krankenhauses, an dem ihr jetziger Neurologe, welcher alle notwendigen Hilfsmittel, Operationen und Reha-Maßnahmen verordnete, als Chefarzt tätig gewesen war. Zum Dezember 2019 wurde S. S. in ein sechs-mona­tiges Arbeitsverhältnis mit 17 Wochenstunden im Schichtdienst übernommen.

Im Januar 2020 nahm sie einige Fahrstunden und bekam auch die fachärztlich-neurologische Erlaubnis, wieder Auto zu fahren – die verbliebenen diskreten Blickfeldeinschränkungen kann sie gut kompensieren.

Seit Dezember 2020 arbeitete Frau S. in einem unbefristeten Arbeitsverhältnis auf einer geronto­psychiatrischen Station eines anderen Krankenhauses – ihrem Wunsch-Arbeitsfeld – und sie boxt sogar wieder. 2021 absolvierte sie eine Pallia­tiv-Care-Weiterbildung erfolgreich und ist jetzt zertifizierte Hospizhelferin.
Letzte von Frau S. noch zu übende bedeutungsvolle Tätigkeit ist das Erlernen von unfallfreiem Tragen von 10 cm hohen High-Heels!
Rückblickend beschreibt sich die Patientin nach der Ent­lassung aus der Klinik – monatelang in der eigenen Wohnung, im Wohnzimmer, im Pflegebett lie­gend – als schwer depressiv und suizidal. So wollte sie z.B. ihren Mann durch stän­diges Weinen dazu bringen, ihr hochdosierte Schmerz-medikamente zu geben, in der Hoffnung, durch Überdosierung ein multiples Organversagen und damit letztlich den Tod herbeiführen zu können.
Erst durch die Mobilisierung mit dem Arm- und Beintrainer tigo, der ihr zunehmend die Möglichkeit der eigen-aktiven Bewegungen bot, bekam sie wieder Lebensmut. Als ausschlaggebend für ihre Rehabilitation empfand sie die Vertikalisierung mit dem Balance-Trainer balo. Sich wieder auf Augenhöhe mit ihrer Familie und der Therapeutin zu erleben, brachte Frau S. nach eigener Aussage dazu, wieder für sich zu kämpfen und Fortschritte erreichen zu wollen.
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tigo
Author
Karin Neidhard
Diplom-Ergotherapeutin und Dozentin
Karin Neidhard ist Diplom-Ergotherapeutin (FH) mit über 40-jähriger Berufserfahrung. Von Dezember 1981 bis Juni 1988 war sie als Ergotherapeutin in der BG-Unfallklinik Frankfurt/Main in den Fachbereichen Rückenmarksverletzungen, allgemeine Chirurgie, Handchirurgie, Neurochirurgie und Orthopädie beschäftigt. Seit 1991 arbeitet sie als Mitarbeiterin der Ergotherapeutischen Praxis Christa Middendorf in Essen (seit 01.01.22 unter neuer Leitung von Andrea Klomfaß) und ist spezialisiert auf die Behandlung neurologisch schwersterkrankter Erwachsener, u.a. Menschen in der Außerklinischen Beatmung und im Wachkoma. Seit über 30 Jahren ist K. Neidhard Mitglied im Deutschen Verband der Ergotherapeuten (DVE). Sie hat an diversen Fort- und Weiterbildungen mit dem Schwerpunkt in neuropsychologischen und neurologisch-rehabilitativen Behandlungs- Verfahren und -Konzepten wie z.B. Bobath, Perfetti, Basale Stimulation, Orofaciale Regulationstherapie nach Castillo Morales, Kinaesthetics u.v.m. teilgenommen. Karin Neidhard war nebenberufl ich und ehrenamtlich als Referentin und Dozentin u.a. für den Deutschen Verband der Ergotherapeuten e.V. tätig, zuletzt im März 2019 für die Reihe „After-Work-Lecture Therapie” an der FH Münster. Ihre Veröffentlichungen – u.a. Ergotherapeutische Untersuchungsreihe neuropsychologischer Störungen – EUNS sind im Schulz-Kirchner Verlag erschienen. Im November 2021 beendete sie ihre Weiterbildung zur Fachtherapeutin in der außerklinischen Intensivversorgung (VeRegO/DiGaB).
References:
  1. Neuro-psychologische Therapie nach Hirnschädigungen, G.Caprez, Rehabilitation und Prävention 17, Springer Verlag, 1984
  2. Der apallische Patient, Aktivierende Pflege und therapeutische Hilfe im Langzeitbereich, Christa Schwörer, Gustav Fischer Verlag, 1988
  3. Wieder Aufstehen, Frühbehandlung und Rehabilitation für Patienten mit schweren Hirnschädigungen, P. M. Davies, Springer Verlag, 1995
  4. Wege von Anfang an, Frührehabilitation schwerst hirngeschädigter Patienten, B. Lipp, W. Schlaegel, Neckar Verlag 1996
  5. Wachkoma, Betreuung, Pflege und Föderung eines Menschen im Wachkoma, P. Nydahl, Urban & Fischer, 2. Auflage 2007
  6. Langzeitbetreuung Wachkoma, Eine Herausforderung für Betreuuende und Angehörige, A. Steinbach, J. Donis, Springer Verlag, 2. Auflage 2011
  7. Schwerstbetroffene Patienten, Expertenbericht 01, J. Ehlers
  8. pdf-datei www.thera-trainer.de, 2017

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