
THERAPY Magazin
Neurorehabilitation im Spannungsfeld zwischen Theorie und Praxis
Negative Ergebnisse in der Neurorehabilitationsforschung bedeuten kein Scheitern – sie zeigen Optimierungspotenziale. Erfahre, wie alltagsnahe Therapie, Dosis-Wirkungs-Präzision und digitale Innovation die Versorgung nach Schlaganfall verbessern können.

Jakob Tiebel
Inhaber, N+ Digital Health Agency
In den letzten zwei Jahrzehnten hat die neurorehabilitative Forschung zahlreiche randomisierte, multizentrische Studien zu spezifischen Therapieverfahren durchgeführt. Während einige Studien deutliche Erfolge zeigten, insbesondere bei der Wiedererlangung der Gehfähigkeit nach einem Schlaganfall, konnten andere keine klare Überlegenheit neuer Interventionen gegenüber Standardtherapien nachweisen. Auch frühere und die aktuelle Ausgabe der THERAPY berichteten darüber. Das folgende Essay fasst grundlegende Gedanken des Autors zu diesem Thema zusammen.
Der „negative“ Befund - Kein Grund für Nihilismus sondern ein Katalysator für Präzisierung
Dass eine therapeutische Maßnahme in einer grossen, ethisch gut fundierten Studie keinen signifikanten Effekt zeigt, wird häufig vorschnell als „Misserfolg“ gewertet. Dabei können solche vermeintlich „negativen“ Befunde einen wertvollen Beitrag zum Erkenntnisgewinn liefern: Sie verdeutlichen, wie zentral eine klare Zielsetzung und eine angemessene Einordnung zugrunde liegender Wirkprinzipien von Interventionen sind. Wenn beispielsweise eine bestimmte Fähigkeit wie Gehgeschwindigkeit, die Ausdauer oder die Alltagskompetenz verbessert werden soll, müssen Trainingsmethoden und -inhalte diesen spezifischen Fokus haben und ausreichend intensiv durchgeführt werden. Negative Studienergebnisse bedeuten kein Scheitern der Neurorehabilitation, sondern zeigen Optimierungspotenzial. Sie fordern eine präzisere Definition von Dosis-Wirkungs-Beziehungen, Zielkriterien und die stärkere Integration von Interventionen in den Versorgungsalltag. So tragen auch scheinbar ernüchternde Befunde zur Weiterentwicklung wirksamerer Therapieansätze bei.
Dass eine therapeutische Maßnahme in einer grossen, ethisch gut fundierten Studie keinen signifikanten Effekt zeigt, wird häufig vorschnell als „Misserfolg“ gewertet. Dabei können solche vermeintlich „negativen“ Befunde einen wertvollen Beitrag zum Erkenntnisgewinn liefern: Sie verdeutlichen, wie zentral eine klare Zielsetzung und eine angemessene Einordnung zugrunde liegender Wirkprinzipien von Interventionen sind. Wenn beispielsweise eine bestimmte Fähigkeit wie Gehgeschwindigkeit, die Ausdauer oder die Alltagskompetenz verbessert werden soll, müssen Trainingsmethoden und -inhalte diesen spezifischen Fokus haben und ausreichend intensiv durchgeführt werden. Negative Studienergebnisse bedeuten kein Scheitern der Neurorehabilitation, sondern zeigen Optimierungspotenzial. Sie fordern eine präzisere Definition von Dosis-Wirkungs-Beziehungen, Zielkriterien und die stärkere Integration von Interventionen in den Versorgungsalltag. So tragen auch scheinbar ernüchternde Befunde zur Weiterentwicklung wirksamerer Therapieansätze bei.
Vom Labor in die Lebenswelt
Die Klinik bleibt essenziell für Diagnostik, Therapie und Überwachung, doch begrenzte Zeit- und Personalressourcen erschweren eine flexible, individuell angepasste Neurorehabilitation. Daher gewinnt die Verlagerung therapeutischer Maßnahmen in den häuslichen und communitynahen Bereich zunehmend an Bedeutung. Dort können Patienten Bewegungsabläufe in ihrem gewohnten Umfeld üben –
etwa beim Einkaufen, auf Spazierwegen oder beim Treppensteigen zu Hause. Dies ermöglicht ein all-tagsnahes, nachhaltiges Training, das sich besser an persönliche Bedürfnisse, Rhythmen und Vorlieben anpassen lässt.
Ein weiterer Vorteil ist die Stärkung von Eigenverantwortung und Selbstwirksamkeit. Wenn Patienten ihr Training selbstständig in den Alltag integrieren und anpassen können, steigt oft die Motivation zur kontinuierlichen Rehabilitation. Digitale Technologien und therapeutische Begleitangebote helfen dabei, den Austausch mit Fachkräften aufrechtzuerhalten, Fortschritte zu dokumentieren und gezieltes Feedback zu erhalten – ohne ständige Präsenztermine.
Die Kombination aus stationärer Therapie und lebensweltlich orientierter Rehabilitation schafft so ein flexibles, zukunftsweisendes Modell, das Intensität, Kontinuität und Individualisierung in der Neurorehabilitation besser vereint. Entscheidend wird sein, maßgeschneiderte Konzepte zu entwickeln, die die Vorteile beider Ansätze optimal verbinden.
Die Klinik bleibt essenziell für Diagnostik, Therapie und Überwachung, doch begrenzte Zeit- und Personalressourcen erschweren eine flexible, individuell angepasste Neurorehabilitation. Daher gewinnt die Verlagerung therapeutischer Maßnahmen in den häuslichen und communitynahen Bereich zunehmend an Bedeutung. Dort können Patienten Bewegungsabläufe in ihrem gewohnten Umfeld üben –
etwa beim Einkaufen, auf Spazierwegen oder beim Treppensteigen zu Hause. Dies ermöglicht ein all-tagsnahes, nachhaltiges Training, das sich besser an persönliche Bedürfnisse, Rhythmen und Vorlieben anpassen lässt.
Ein weiterer Vorteil ist die Stärkung von Eigenverantwortung und Selbstwirksamkeit. Wenn Patienten ihr Training selbstständig in den Alltag integrieren und anpassen können, steigt oft die Motivation zur kontinuierlichen Rehabilitation. Digitale Technologien und therapeutische Begleitangebote helfen dabei, den Austausch mit Fachkräften aufrechtzuerhalten, Fortschritte zu dokumentieren und gezieltes Feedback zu erhalten – ohne ständige Präsenztermine.
Die Kombination aus stationärer Therapie und lebensweltlich orientierter Rehabilitation schafft so ein flexibles, zukunftsweisendes Modell, das Intensität, Kontinuität und Individualisierung in der Neurorehabilitation besser vereint. Entscheidend wird sein, maßgeschneiderte Konzepte zu entwickeln, die die Vorteile beider Ansätze optimal verbinden.
Fazit: Kein Grund für Resignation
Groß angelegte Studien ohne klinisch relevanten Unterschied zeigen nicht die Grenzen der Rehabilitationsforschung, sondern betonen die Bedeu-tung von Dosis-Wirkungs-Beziehungen, Zielspezifizierung und Umgebungsfaktoren – in Theorie und Praxis. Technologische Innovationen und Kombinationstherapien bieten Chancen zur Wirkungssteigerung, während individuelle Begleitung die alltagsrelevante Gehfähigkeit und Lebensqualität nachhaltig verbessert.
So erweist sich ein vermeintliches „negatives“ Bild der aktuellen Evidenzlage einmal mehr als Anstoß für neue Perspektiven und innovative Ansätze. Die Herausforderung besteht darin, Interventionen mit Blick auf unterschiedliche Zielgruppen und Kontexte zu präzisieren, größere Datenpools sinnvoll zu nutzen und eine enge Verzahnung von Forschung und klinischem Alltag zu fördern. Denn genau das ist der Schlüssel, um die Rehabilitationsforschung weiter voranzutreiben – und damit die Teilhabe und Autonomie von Menschen nach einem Schlaganfall nachhaltig zu stärken.
Groß angelegte Studien ohne klinisch relevanten Unterschied zeigen nicht die Grenzen der Rehabilitationsforschung, sondern betonen die Bedeu-tung von Dosis-Wirkungs-Beziehungen, Zielspezifizierung und Umgebungsfaktoren – in Theorie und Praxis. Technologische Innovationen und Kombinationstherapien bieten Chancen zur Wirkungssteigerung, während individuelle Begleitung die alltagsrelevante Gehfähigkeit und Lebensqualität nachhaltig verbessert.
So erweist sich ein vermeintliches „negatives“ Bild der aktuellen Evidenzlage einmal mehr als Anstoß für neue Perspektiven und innovative Ansätze. Die Herausforderung besteht darin, Interventionen mit Blick auf unterschiedliche Zielgruppen und Kontexte zu präzisieren, größere Datenpools sinnvoll zu nutzen und eine enge Verzahnung von Forschung und klinischem Alltag zu fördern. Denn genau das ist der Schlüssel, um die Rehabilitationsforschung weiter voranzutreiben – und damit die Teilhabe und Autonomie von Menschen nach einem Schlaganfall nachhaltig zu stärken.
Ambulante Rehabilitation
Cycling
Fachkreise
Gait
Standing & Balancing
Stationäre Rehabilitation
THERAPY 2025-I
THERAPY Magazin
Wissenschaft

Jakob Tiebel
Inhaber, N+ Digital Health Agency
Jakob Tiebel Studium in angewandter
Psychologie mit Schwerpunkt
Gesundheitswirtschaft. Klinische
Expertise durch frühere
therapeutische Tätigkeit in der
Neurorehabilitation. Forscht und
publiziert zum Theorie-Praxis-
Transfer in der Neurorehabilitation
und ist Inhaber von Native.
Health, einer Agentur für digitales
Gesundheitsmarketing.
References:
- Nave AH, Rackoll T, Grittner U, Bläsing H, Gorsler A, Nabavi DG, Audebert HJ, Klostermann F, Müller-Werdan U, Steinhagen-Thiessen E, Meisel A, Endres M, Hesse S, Ebinger M, Flöel A. Physical Fitness Training in Patients with Subacute Stroke (PHYS-STROKE): multicentre, randomised controlled, endpoint blinded trial. BMJ. 2019 Sep 18;366:l5101. doi: 10.1136/bmj.l5101. PMID: 31533934; PMCID: PMC6749174.
- Dettmers, C., Dohle, C., Mokrusch, T. et al. Die PHYS-STROKE-Studie – nicht die Technologie, sondern ihr therapeutischer Einsatz zählt. DGNeurologie 3, 5–10 (2020). https://doi.org/10.1007/s42451-019-00142-z Dohle, C. Aerobes Training nur mit Vorsicht einsetzen. InFo Neurologie 22, 10–11 (2020). https://doi.org/10.1007/s15005-020-1254-0
- Dohle, C. Ist Neurorehabilitation wirksam?. InFo Neurologie 22, 3 (2020). https://doi.org/10.1007/s15005-020-1284-7
- Moore SA, Boyne P, Fulk G, Verheyden G, Fini NA. Walk the Talk: Current Evidence for Walking Recovery After Stroke, Future Pathways and a Mission for Research and Clinical Practice. Stroke. 2022 Nov;53(11):3494-3505. doi: 10.1161/STROKEAHA.122.038956. Epub 2022 Sep 7. PMID: 36069185; PMCID: PMC9613533.
- Kenji Kawakami, Shigeo Tanabe, Daiki Kinoshita, Ryo Kitabatake, Hiroo Koshisaki, Kenta Fujimura, Yoshikiyo Kanada, Hiroaki Sakurai, Characteristics of subacute stroke patients who achieve earlier independence in real-life walking performance during hospitalization, Journal of Rehabilitation Medicine, 57, (jrm41993), (2025).
- Kirsten E Smayda, Jennifer Lavanture, Megan Bourque, Nathashi Jayawardena, Sarah Kane, Holly Roberts, Barbara Heikens, One-year budget impact of InTandem™: a novel neurorehabilitation system for individuals with chronic stroke walking impairment, Journal of Comparative Effectiveness Research, 13, 10, (2024).
- We Target Close Therapeutic Goals in the Gait Re-Education Algorithm for Stroke Patients at the Beginning of the Rehabilitation Process?, Sensors, 24, 11, (3416), (2024).
- Maria Gomez-Risquet, Rocío Cáceres-Matos, Eleonora Magni, Carlos Luque-Moreno, Effects of Haptic Feedback Interventions in Post-Stroke Gait and Balance Disorders: A Systematic Review and Meta-Analysis, Journal of Personalized Medicine, 14, 9, (974), (2024).
- Alessio Baricich, Margherita Beatrice Borg, Marco Battaglia, Salvatore Facciorusso, Stefania Spina, Marco Invernizzi, Lorenza Scotti, Lucia Cosenza, Alessandro Picelli, Andrea Santamato, High-Intensity Exercise Training Impact on Cardiorespiratory Fitness, Gait Ability, and Balance in Stroke Survivors: A Systematic Review and Meta-Analysis, Journal of Clinical Medicine, 13, 18, (5498), (2024).