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young ballet dancer in rehearsal, movement quality
 
 

Wissenschaft

Hello Again!?
Die Renaissance der Bewegungsqualität

 

Neuerdings wird im Rahmen der modernen, evidenzbasierten Neurorehabilitation die Frage nach der Bewegungsqualität (wieder) gestellt. War dieses Thema nicht schon längst als erledigt deklariert?

 

Die Beschäftigung mit der Qualität von Bewegungen erscheint nahezu anachronistisch. Zwar spielt die Bewegungsqualität in den sogenannten empirischen Behandlungsansätzen (v.a. Bobath-Konzept) von je her und bis heute eine große Rolle [1]. Im Kontext der modernen evidenzbasierten Therapie hatte sie bisher jedoch eine eher untergeordnete Bedeutung. Denn der Fokus der modernen motorischen Neuroreha liegt primär auf der Zielerreichung, also an der Erreichung eines funktionellen Outcomes und nicht an der Art und Weise, wie sich Patienten bewegen bzw. wie sie ein Bewegungsziel erreichen [2]. Bewegungsqualität galt deshalb als untergeordnetes Behandlungs- und Forschungsziel und Kompensation wurde als bestmögliche Art der verbliebenen Bewegungskontrolle nach einer Schädigung des ZNS angesehen [3]. Doch nun sorgen Veröffentlichungen namhafter, international renommierter Neurowissenschaftler für eine Wiederentdeckung der Bewegungsqualität. Einen wesentlichen Impuls dazu liefert eine Arbeitsgruppe (Stroke Recovery and Rehabilitation Roundtable, SRRR) um Gert Kwakkel, Carolee Winstein, John Krakauer und andere [4].

 

Wie kommt es zum neuerlichen Interesse an der Bewegungsqualität?

 

Die Bewegungsqualität ist für die Forscher des SRRR und andere deshalb bedeutsam, um zwischen wirklichem Rückgewinn (True Recovery, Restitution) und Kompensation differenzieren zu können. Es geht also um die Beantwortung der Frage: Wodurch genau werden Schlaganfallpatienten im Verlauf der Erkrankung besser? Durch die Erholung des Nervensystems (True Recovery, Restitution) und damit dem Rückgewinn physiologischer Bewegungsmuster oder dadurch, dass alternative Bewegungsmuster (Kompensationen) antrainiert werden und sich eta­blieren [5]? Oder eine Mischung von beidem? Die Neuroplastizität ist ein wichtiger Faktor bei der Erholung nach einer Hirnschädigung. Sie ist die Grundlage sowohl der Restitution als auch der Kompensation. Das zentrale Nervensystem reagiert auf eine Schädigung (z.B. Schlaganfall) mit plastischen Veränderungen. Diese können adaptiv („günstige, geeignete“ Plastizität) oder maladaptiv („ungünstige, ungeeignete“ Plastizität) sein [7]. Es sind einerseits spontane biologische Prozesse (Umkehr der Diaschisis, Rückbildung der Penumbra), die zur Funktionserholung beitragen. Und andererseits lern- bzw. erfahrungsabhängige Prozesse. Die lern- und erfahrungsabhängigen Mecha­nismen führen zu strukturellen (dendritisches und axonales Sprouting, kortikales Re-Mapping, u.w.) und zu funktionellen Veränderungen (Langzeitpotenzierung) des Nervensystems [6]. Diese lern- und erfahrungsabhängigen Formen der Neuroplastizität (use-depend plasticity, learning depend plasticity, exercise-induced plasticity, guided-recovery) sind bei der Beschäftigung mit der Bewegungsqualität sehr relevant. Denn neuroplastische Veränderungen sind nicht das Ergebnis automatischer, ungerichteter und unbeeinflussbarer Prozesse. Ganz im Gegenteil. Plastizität ist reizabhängig und ist letztlich Ergebnis der Wiederholung bestimmter Bewegungsmuster. Häufig wiederholte Bewegungsmuster werden bevorzugt abgespeichert (Hebb`sche Plastizität). Dies gilt für physiologische Bewegungsmuster und ebenso für weniger physiologische Bewegungsmuster (Kompensation). Kompensatorische Bewegungsmuster gelten als Faktor für maladaptive neuroplastische Anpassungen [6][8]. Das „Wie“ der Bewegungskontrolle beeinflusst also auch die Art der Neuroplastizität (adaptiv oder maladaptiv).

 

 

Bewegungsqualität im Fokus des Trainings der oberen Extremität

 

Das SRRR hat sich mit der Bewegungsqualität im Rahmen der Rehabilitation der oberen Extremität beschäftigt. Hier ist es v.a. John Krakauer, der mit neueren Forschungsarbeiten und bemerkenswer­ten Thesen aufhorchen lässt [8]. Eine dieser Thesen lautet, dass ein „nicht-aufgaben-orientierter Therapieansatz fruchtbarer für die Erholung der Impairments (v.a. Kraft und motorische Kontrolle) ist“, als der weit verbreitete aufgabenorientierte Therapieansatz [9]. Krakauer geht sogar noch weiter, indem er sagt: „der Fokus des Trainings sollte eher auf der Bewegungsqualität als auf der Vollendung der Aufgabe liegen“ [9]. Basis seiner Aussagen ist der Umstand, dass Neuroplastizität reizabhängig und damit beeinflussbar ist. Und dass die pathologischen Bewegungsmuster der oberen Extremität (Flexorsynergie) ebenfalls beeinflussbar sind und eben nicht bestmögliche verbliebene Art der Bewegungskontrolle darstellen. Sie sind lediglich die für das geschädigte Nervensystem einfachste Art, Bewegungen abzurufen. Diese Form der Bewegungskontrolle ist keineswegs ein unausweichliches Schicksal, sondern sie ist im Sinne einer erhöhten Bewegungsqualität beeinflussbar [10-12].

 

Rückgewinn der unteren Extremität
(Stehen, Gehen)

 

Ähnlich wie bei der oberen Extremität sind auch hier Verbesserungen auf der Aktivitätsebene (Geh­-
geschwindigkeit, Gehausdauer) nicht zwingend Ergebnis einer tatsächlichen Restitution, sondern beruhen häufig auf dem Erlernen „effektiver“ Kompensationsstrategien [13][14]. Im klinischen Alltag sind typische Kompensationen beobachtbar: verminderte Gewichtsübernahme in der Standbeinphase auf der paretischen Seite, Kniehyperextension in der Standbeinphase auf der paretischen Seite, Zirkumduktion in der Schwungbeinphase auf der paretischen Seite, verlängerte Zweibeinstandphase, asymmetrische Bewegungsmuster usw.
Es könnte also sein, dass durch die positive Beeinflussung der Bewegungsqualität adaptive Formen der Neuroplastizität genutzt werden können. Ver­-
schiedene Studien geben Hinweise darauf [15-16].

 

Routson und Kollegen [16] untersuchten den Effekt eines von Therapeuten manuell unterstützten Laufbandtrainings bei Schlaganfallpatienten. Sie kommen zu dem Schluss, dass dieses Training „das Potential hat […] die Qualität des Timings zu beeinflussen, was wiederum zu Verbesserungen der Symmetrie […] führen kann“. Die dabei angewendete manuelle Assistenz war darauf ausgelegt, die beim Gehen erwünschten Bewegungen des Rumpfes und der unteren Extremität sowie die zeitlichen und räumlichen Bewegungspattern positiv zu beeinflussen.

 

Die Autorinnen und Autoren der Studie weisen jedoch auch darauf hin, dass der Effekt der Therapie abhängig war von der Schwere der Ausfälle. Es erscheint sinnvoll, bei der Rehabilitation der unteren Extremität (Gehen) in angemessener Art und Weise die Bewegungsqualität zu beachten und zu therapieren. Deshalb weist Clare Maguire [17] darauf hin, dass Interventionen angewendet werden
sollen, welche „die selektive Aktivierung von Mus­-
kel­synergien der unteren Extremität fördern”.
Zum Beispiel durch gezieltes Gehtraining mit
und ohne Geräte, bei dem die kinematische Bewe­gungsdurchführung beeinflusst wird und so phy­-
siologische Bewegungsmuster geübt werden. Das verhindert die Verwendung kompensatorischer Bewegungsstrategien, was wiederum förderlich für die Erholung der prämorbiden Bewegungsmuster sein kann [17].

 

Fazit

 

Die Auseinandersetzung mit der Bewegungsqualität ist als relevantes Thema auf die Bühne der motorischen Neurorehabilitation zurückgekehrt. Es gibt keine Pauschalrezepte zur Lösung dieser Problematik. Welche Rolle die Bewegungsqualität und welche Rolle die Kompensation spielt, sollte vielmehr sehr differenziert und individualisiert eingeschätzt werden. Einerseits verfügen nicht alle Patienten über dasselbe Potential zur Veränderung und zum Rückgewinn. Und andererseits besteht sicherlich noch Forschungsbedarf, um zukünftige Behandlungsstrategien zu entwickeln und zu evaluieren. Bezüglich des o.g. Faktors Potenzial zur Veränderung postuliert Robertson [18] eine dreiteilige Subgruppierung von Patienten:

 

1. Patienten mit spontanem Rückgewinn (leichte Schädigung des Nervensystems)
2. Patienten mit einem geführten Rückgewinn sog.
guided-recovery, basierend auf use-depend
plas­ticity, learning depend plasticity, exercise-
in­­du­ced plasticity (moderate Schädigung des Nervensystems)
3. Patienten mit keinem oder sehr geringem Rückgewinn (schwere Schädigung des Nervensystems)

 

Für Patienten aus Subgruppe 2 ist eine Therapie unter Berücksichtigung der Bewegungsqualität
sinnvoll. Für solche aus Subgruppe 3 ist eine Therapie, die Kompensationen zulässt bzw. sogar trainiert, geeignet. D.h. manche Patienten profitieren von einem auf Rückgewinn (Bewegungsqualität) angelegten Behandlungszugang und andere von einem kompensationsbasierten Ansatz [13].

 

Quellen:

[1] Michielsen M, Vaughan-Graham J, Holland A, et al. The Bobath concept – a model to illustrate clinical practice. Disabil Rehabil 2019; 41: 2080–2092. doi:10.1080/09638288.2017.1417496
[2] Roby-Brami A, Jarrassé N, Parry R. Impairment and Compensation in Dexterous Upper-Limb Function After Stroke. From the Direct Consequences of Pyramidal Tract Lesions to Behavioral Involvement of Both Upper-Limbs in Daily Activities. Frontiers in Human Neuroscience 2021; 15
[3] Lamprecht S., Lamprecht H. Die zehn größten Irrtümer in der Neuroreha. PT-Zeitschrift 2021; 73
[4] Kwakkel G, Van Wegen E, Burridge JH, et al. Standardized measurement of quality of upper limb movement after stroke: Consensus-based core recommendations from the Second Stroke Recovery and Rehabilitation Roundtable. Int J Stroke 2019; 14: 783–791. doi:10.1177/1747493019873519
[5] Buma F, Kwakkel G, Ramsey N. Understanding upper limb recovery after stroke. Restor Neurol Neurosci 2013; 31: 707–722. doi:10.3233/RNN-130332
[6] Joy MT, Carmichael ST. Encouraging an excitable brain state: mechanisms of brain repair in stroke. Nat Rev Neurosci 2021; 22: 38–53. doi:10.1038/s41583-020-00396-7
[7] Takeuchi N, Izumi S-I. Maladaptive plasticity for motor recovery after stroke: mechanisms and approaches. Neural Plast 2012; 2012: 359728. doi:10.1155/2012/359728
[8] Krakauer J., Carmichael S. Broken Movement: The Neurobiology of Motor Recovery after Stroke. MIT Press; 2017
[9] Krakauer JW, Cortés JC. A non-task-oriented approach based on high-dose playful movement exploration for rehabilitation of the upper limb early after stroke: A proposal. NeuroRehabilitation 2018; 43: 31–40. doi:10.3233/NRE-172411
[10] Murata Y, Higo N, Oishi T, et al. Effects of motor training on the recovery of manual dexterity after primary motor cortex lesion in macaque monkeys. J Neurophysiol 2008; 99: 773–786. doi:10.1152/jn.01001.2007
[11] Lum PS, Mulroy S, Amdur RL, et al. Gains in upper extremity function after stroke via recovery or compensation: Potential differential effects on amount of real-world limb use. Top Stroke Rehabil 2009; 16: 237–253. doi:10.1310/tsr1604-237
[12] Lewthwaite R, Winstein CJ, Lane CJ, et al. Accelerating Stroke Recovery: Body Structures and Functions, Activities, Participation, and Quality of Life Outcomes From a Large Rehabilitation Trial. Neurorehabil Neural Repair 2018; 32: 150–165. doi:10.1177/1545968318760726
[13] Bowden MG, Behrman AL, Woodbury M, et al. Advancing measurement of locomotor rehabilitation outcomes to optimize interventions and differentiate between recovery versus compensation. J Neurol Phys Ther 2012; 36: 38–44. doi:10.1097/NPT.0b013e3182472cf6
[14] Beyaert C, Vasa R, Frykberg GE. Gait post-stroke: Pathophysiology and rehabilitation strategies. Neurophysiol Clin 2015; 45: 335–355. doi:10.1016/j.neucli.2015.09.005
[15] Hornby TG, Campbell DD, Kahn JH, et al. Enhanced gait-related improvements after therapist- versus robotic-assisted locomotor training in subjects with chronic stroke: a randomized controlled study. Stroke 2008; 39: 1786–1792. doi:10.1161/STROKEAHA.107.50477
[16] Routson RL, Clark DJ, Bowden MG, et al. The influence of locomotor rehabilitation on module quality and post-stroke hemiparetic walking performance. Gait Posture 2013; 38: 511–517. doi:10.1016/j.gaitpost.2013.01.0 [17] Krakauer JW, Kitago T, Goldsmith J, et al. Comparing a Novel Neuroanimation Experience to Conventional Therapy for High-Dose Intensive Upper-Limb Training in Subacute Stroke: The SMARTS2 Randomized Trial. Neurorehabil Neural Repair 2021; 35: 393–405. doi:10.1177/15459683211000730
[17] Maguire CC, Sieben JM, De Bie RA. Movement goals encoded within the cortex and muscle synergies to reduce redundancy pre and post-stroke. The relevance for gait rehabilitation and the prescription of walking-aids. A literature review and scholarly discussion. Physiother Theory Pract 2019; 35: 1–14. doi:10.1080/09593985.2018.1434579
[18] Robertson IH, Murre JM. Rehabilitation of brain damage: brain plasticity and principles of guided recovery. Psychol Bull 1999; 125: 544–575. doi:10.1037/0033-2909.125.5.544

 

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Martin Huber, Physiotherapist and Master of Science in Neurorehabilitation, author THERAPY Magazine

 

Martin Huber
Physiotherapeut und Master of Science in Neuroheabilitation

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