
THERAPY Magazin
Damit Forschung beim Patienten ankommt
Die Integration evidenzbasierter Therapie in die Praxis bleibt eine Herausforderung. Erfahren Sie, wie der Wissenstransfer in der Physiotherapie verbessert werden kann und welche Schritte nötig sind, um aktuelle wissenschaftliche Erkenntnisse effektiv in der Behandlung umzusetzen.

Redaktion
THERAPY Magazin
Die deutsche Physiotherapie steht vor der Aufgabe, feste Strukturen aufzubauen, die evidenzbasierte Methoden in der Praxis gewährleisten. Dafür müssen alle Beteiligten des Systems zusammenarbeiten. Die Bedeutung evidenzbasierter Therapie nimmt zu. Die Zahl wissenschaftlicher Publikationen steigt kontinuierlich an. Doch werden die Erkenntnisse tatsächlich in die Praxis transferiert?
Herr Huber, Sie haben sich intensiv mit der Frage auseinandergesetzt, wie evidenzbasierte Therapie die Patienten erreicht. Wie sieht es aktuell mit der Umsetzung in der Praxis aus?
Viele Kliniken werben damit, dass die Therapie nach aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnissen ausgerichtet ist. Das trifft jedoch nicht immer zu. Wie bereits in meinem Artikel geschildert, ist z.B. eine frühe Mobilisation nach einem Schlaganfall sehr wichtig und hat nachgewiesen positive Effekte auf den Funktionsrückgewinn. Trotzdem halten sich Therapeuten auch heute noch an veraltete Richtlinien und behandeln Patienten in der Frühphase sehr vorsichtig und zurückhaltend. Dadurch verstreicht wertvolle Zeit.
Was macht es so schwierig, das Wissen an die Basis zu bekommen?
Das liegt an der Komplexität der Prozesse. Sie sind schwer zu steuern, da viele Akteure an verschiedenen Schnittstellen beteiligt sind.
Können Sie dazu ein Beispiel geben?
In der Physiotherapie sind Forscher, Ausbildende in Schulen, Lehre und Weiterbildung, Wissensanwender in der Praxis, Arbeitgeber, Verbände, Gesundheitspolitiker und Kostenträger in die Prozesse eingebunden. Nur wenn alle diese Akteure miteinander kommunizieren und an den Schnittstellen eng vernetzt zusammenarbeiten, lässt sich gewährleisten, dass neues Wissen am Patienten ankommt. Dafür muss sich jedoch noch vieles ändern.
Und das vermutlich nicht nur an einer der Schnittstellen, oder?
Das ist richtig. Betrachtet man die bisherigen Bemühungen der Akteure in der Physiotherapie, zeigt sich, was es noch braucht, bis alle an einem Strang ziehen.
Beispielsweise ist die Ausbildungs- und Prüfungsverordnung für Physiotherapeuten mittlerweile über 20 Jahre alt. Nach Inhalten wie »wissenschaftliches Arbeiten« oder »Evidenzbasierung« sucht man darin vergebens.
Kann das Wissen denn im Anschluss an die Ausbildung zum Beispiel über Fortbildungen und Weiterbildung vermittelt werden?
Auch das ist problematisch. Es gibt kein Organ, das den Fort- und Weiterbildungsmarkt reguliert. Es gibt zwar eine Fortbildungspflicht und gewisse Qualitätskriterien, jedoch gibt es keine Kontrollinstanz, die die Curricula der jeweiligen Fortbildungsveranstalter auf deren Evidenz prüft. Die Fortbildungsanbieter sind nicht gefordert, aktuelles Wissen zu vermitteln oder zumindest klarzumachen, welche Inhalte wissenschaftlich abgesichert sind und welche auf empirischen Beinen stehen. Therapeuten investieren unter Umständen viel Zeit und Geld in Fortbildungen mit veralteten Inhalten.
Gibt es Vorreiter, die mit gutem Beispiel voran gehen?
Natürlich gibt es Schulen und Kliniken, die den Wissenstransfer vorantreiben. Besonders im stationären Bereich hat sich einiges getan in den letzten Jahren. Auch die gerätegestützte Therapie, die mit guter Evidenz belegt ist, ist hier mehr und mehr auf dem Vormarsch. Der Ambulante Sektor tut sich da schwerer. Das Problem sind hier die Kostenträger. Bezogen auf die Therapie von Menschen mit neurologischen Erkrankungen sieht der Heilmittelkatalog traditionelle Behandlungsansätze wie Bobath, Vojta vor. Für sie erhalten Therapeuten pro Behandlungseinheit mehr Geld als für die normale Krankengymnastik. Modernere, evidenzbasierte Verfahren wie das aufgabenorientierte Training sind hingegen im Heilmittelkatalog nicht erwähnt und resultieren schon gar nicht in einer höheren finanziellen Vergütung. Diese Schieflage blockiert zusätzlich, dass sich evidenzbasierte Verfahren auch auf dem Fortbildungsmarkt etablieren. Der Heilmittelkatalog ist kein Anreiz für Therapeuten, aktuelle Methoden einzusetzen. Hier sollten sich die Berufsverbände mit den Kostenträgern auseinandersetzen und beim gemeinsamen Bundesausschuss Aktualisierungen anregen.
Welche Schritte sind nötig, um die Situation zu verbessern?
Die Physiotherapie in Deutschland braucht eine übergeordnete Instanz, die den Austausch zwischen den Schnittstellen koordiniert. Im Moment ist die »Knowledge Translation« mehr oder weniger Privatsache jedes Einzelnen. Natürlich gibt es Schulen und Kliniken, die den Wissenstransfer vorantreiben und in die Praxis umsetzen. Und sicherlich ist mit der neuen Möglichkeit, Physiotherapie in Deutschland grundständig zu studieren, der Prozess in Bewegung gekommen – auf breiter Ebene existiert aber nach wie vor ein Vakuum.
Wie reagieren Therapeuten auf die zunehmenden Veränderungen? Ihre tägliche Arbeit muss sich im Zuge neuer Erkenntnisse sicher verändern, oder?
Oh ja – nicht zuletzt müssen auch die Therapeuten »an der Bank« ihre Arbeit kritisch hinterfragen, wenn die Erkenntnisse aus der Forschung bei den Patienten ankommen soll. Manche Anwendungen mit mangelhafter Evidenz sind hier zu lieb gewonnenen Gewohnheiten geworden. Das eigene Verhalten zu ändern, ist naturgemäß ein Prozess, der Widerstände provoziert. Diese Hürde müssen motivierte Physiotherapeuten dringend überwinden, wenn sie die Patienten effizient behandeln möchten.
Die Forschung spricht von »Knowledge Translation«. Welche Erkenntnisse hält sie zu dem Thema aktuell bereit?
Für die Akteure in der Lehre und auf dem Weiterbildungsmarkt hält die Wissenschaft aktuelle Erkenntnisse darüber bereit, wie sie den Wandlungsprozess fördern können. In randomisierten kontrollierten Studien haben Forscher untersucht, welche Knowledge-Translation-Interventionen am wirksamsten sind. In einer groß angelegten Übersichtsarbeit hat zum Beispiel Jeremy Grimshaw herausgefunden, dass passive Interventionen – also Artikel, Vorträge, Kongressbesuche und Schulungsmaterial – allein nicht effektiv genug sind, um das Verhalten der Anwender zu ändern. Der Ansatz ist lediglich sinnvoll, um ein Problembewusstsein zu schaffen. Lernen mit dem Ziel, Verhalten zu ändern, beinhaltet jedoch mehrere kritische Schritte: Bezogen auf die Physiotherapie muss der Lernende das Wissen erwerben, es dann zuerst in der Übungssituation und später am Patienten anwenden und in seinen therapeutischen Alltag integrieren. Dies ist ein komplexer Weg, den Lernende nur aktiv bewältigen können.
Welches Fazit ziehen Sie persönlich?
Knowledge Translation ist ein komplexer Prozess, der in der deutschen Physiotherapie noch in den Kinderschuhen steckt. Aktive vielseitige Maßnahmen fördern ihn wirkungsvoll, benötigen allerdings Motivation, Zeit und Geld – Das sind Hindernisse, die hoch, aber überwindbar sind. Alle Akteure sollten zum Wohl der Patienten und zur Professionalisierung des Berufsstands miteinander kommunizieren und den Prozess gemeinsam voranbringen.
Herr Huber, vielen Dank für das
interessante Gespräch!
Viele Kliniken werben damit, dass die Therapie nach aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnissen ausgerichtet ist. Das trifft jedoch nicht immer zu. Wie bereits in meinem Artikel geschildert, ist z.B. eine frühe Mobilisation nach einem Schlaganfall sehr wichtig und hat nachgewiesen positive Effekte auf den Funktionsrückgewinn. Trotzdem halten sich Therapeuten auch heute noch an veraltete Richtlinien und behandeln Patienten in der Frühphase sehr vorsichtig und zurückhaltend. Dadurch verstreicht wertvolle Zeit.
Was macht es so schwierig, das Wissen an die Basis zu bekommen?
Das liegt an der Komplexität der Prozesse. Sie sind schwer zu steuern, da viele Akteure an verschiedenen Schnittstellen beteiligt sind.
Können Sie dazu ein Beispiel geben?
In der Physiotherapie sind Forscher, Ausbildende in Schulen, Lehre und Weiterbildung, Wissensanwender in der Praxis, Arbeitgeber, Verbände, Gesundheitspolitiker und Kostenträger in die Prozesse eingebunden. Nur wenn alle diese Akteure miteinander kommunizieren und an den Schnittstellen eng vernetzt zusammenarbeiten, lässt sich gewährleisten, dass neues Wissen am Patienten ankommt. Dafür muss sich jedoch noch vieles ändern.
Und das vermutlich nicht nur an einer der Schnittstellen, oder?
Das ist richtig. Betrachtet man die bisherigen Bemühungen der Akteure in der Physiotherapie, zeigt sich, was es noch braucht, bis alle an einem Strang ziehen.
Beispielsweise ist die Ausbildungs- und Prüfungsverordnung für Physiotherapeuten mittlerweile über 20 Jahre alt. Nach Inhalten wie »wissenschaftliches Arbeiten« oder »Evidenzbasierung« sucht man darin vergebens.
Kann das Wissen denn im Anschluss an die Ausbildung zum Beispiel über Fortbildungen und Weiterbildung vermittelt werden?
Auch das ist problematisch. Es gibt kein Organ, das den Fort- und Weiterbildungsmarkt reguliert. Es gibt zwar eine Fortbildungspflicht und gewisse Qualitätskriterien, jedoch gibt es keine Kontrollinstanz, die die Curricula der jeweiligen Fortbildungsveranstalter auf deren Evidenz prüft. Die Fortbildungsanbieter sind nicht gefordert, aktuelles Wissen zu vermitteln oder zumindest klarzumachen, welche Inhalte wissenschaftlich abgesichert sind und welche auf empirischen Beinen stehen. Therapeuten investieren unter Umständen viel Zeit und Geld in Fortbildungen mit veralteten Inhalten.
Gibt es Vorreiter, die mit gutem Beispiel voran gehen?
Natürlich gibt es Schulen und Kliniken, die den Wissenstransfer vorantreiben. Besonders im stationären Bereich hat sich einiges getan in den letzten Jahren. Auch die gerätegestützte Therapie, die mit guter Evidenz belegt ist, ist hier mehr und mehr auf dem Vormarsch. Der Ambulante Sektor tut sich da schwerer. Das Problem sind hier die Kostenträger. Bezogen auf die Therapie von Menschen mit neurologischen Erkrankungen sieht der Heilmittelkatalog traditionelle Behandlungsansätze wie Bobath, Vojta vor. Für sie erhalten Therapeuten pro Behandlungseinheit mehr Geld als für die normale Krankengymnastik. Modernere, evidenzbasierte Verfahren wie das aufgabenorientierte Training sind hingegen im Heilmittelkatalog nicht erwähnt und resultieren schon gar nicht in einer höheren finanziellen Vergütung. Diese Schieflage blockiert zusätzlich, dass sich evidenzbasierte Verfahren auch auf dem Fortbildungsmarkt etablieren. Der Heilmittelkatalog ist kein Anreiz für Therapeuten, aktuelle Methoden einzusetzen. Hier sollten sich die Berufsverbände mit den Kostenträgern auseinandersetzen und beim gemeinsamen Bundesausschuss Aktualisierungen anregen.
Welche Schritte sind nötig, um die Situation zu verbessern?
Die Physiotherapie in Deutschland braucht eine übergeordnete Instanz, die den Austausch zwischen den Schnittstellen koordiniert. Im Moment ist die »Knowledge Translation« mehr oder weniger Privatsache jedes Einzelnen. Natürlich gibt es Schulen und Kliniken, die den Wissenstransfer vorantreiben und in die Praxis umsetzen. Und sicherlich ist mit der neuen Möglichkeit, Physiotherapie in Deutschland grundständig zu studieren, der Prozess in Bewegung gekommen – auf breiter Ebene existiert aber nach wie vor ein Vakuum.
Wie reagieren Therapeuten auf die zunehmenden Veränderungen? Ihre tägliche Arbeit muss sich im Zuge neuer Erkenntnisse sicher verändern, oder?
Oh ja – nicht zuletzt müssen auch die Therapeuten »an der Bank« ihre Arbeit kritisch hinterfragen, wenn die Erkenntnisse aus der Forschung bei den Patienten ankommen soll. Manche Anwendungen mit mangelhafter Evidenz sind hier zu lieb gewonnenen Gewohnheiten geworden. Das eigene Verhalten zu ändern, ist naturgemäß ein Prozess, der Widerstände provoziert. Diese Hürde müssen motivierte Physiotherapeuten dringend überwinden, wenn sie die Patienten effizient behandeln möchten.
Die Forschung spricht von »Knowledge Translation«. Welche Erkenntnisse hält sie zu dem Thema aktuell bereit?
Für die Akteure in der Lehre und auf dem Weiterbildungsmarkt hält die Wissenschaft aktuelle Erkenntnisse darüber bereit, wie sie den Wandlungsprozess fördern können. In randomisierten kontrollierten Studien haben Forscher untersucht, welche Knowledge-Translation-Interventionen am wirksamsten sind. In einer groß angelegten Übersichtsarbeit hat zum Beispiel Jeremy Grimshaw herausgefunden, dass passive Interventionen – also Artikel, Vorträge, Kongressbesuche und Schulungsmaterial – allein nicht effektiv genug sind, um das Verhalten der Anwender zu ändern. Der Ansatz ist lediglich sinnvoll, um ein Problembewusstsein zu schaffen. Lernen mit dem Ziel, Verhalten zu ändern, beinhaltet jedoch mehrere kritische Schritte: Bezogen auf die Physiotherapie muss der Lernende das Wissen erwerben, es dann zuerst in der Übungssituation und später am Patienten anwenden und in seinen therapeutischen Alltag integrieren. Dies ist ein komplexer Weg, den Lernende nur aktiv bewältigen können.
Welches Fazit ziehen Sie persönlich?
Knowledge Translation ist ein komplexer Prozess, der in der deutschen Physiotherapie noch in den Kinderschuhen steckt. Aktive vielseitige Maßnahmen fördern ihn wirkungsvoll, benötigen allerdings Motivation, Zeit und Geld – Das sind Hindernisse, die hoch, aber überwindbar sind. Alle Akteure sollten zum Wohl der Patienten und zur Professionalisierung des Berufsstands miteinander kommunizieren und den Prozess gemeinsam voranbringen.
Herr Huber, vielen Dank für das
interessante Gespräch!
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Martin Huber
Freiberufler in der ambulanten Physiotherapie von neurologischen
Patienten
Martin Huber ist Physiotherapeut und hat 2007 den Master of Science in Neurorehabilitation
erworben. Als Therapeut behandelt er hauptsächlich Patienten mit Schädigungen des Zentralen
Nervensystems. Seit 2010 ist er freiberuflich in der ambulanten Physiotherapie bei neurologischen
Patienten tätig. Bereits vor einigen Jahren berichtete er in renommierten Fachzeitschriften über
posturale Kontrolle und aufgabenorientierte Therapie und ist als Referent bei diversen nationalen
Physiotherapiekongressen vertreten.
References:
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