icon-contact-phone
icon-contact-mail
icon-contact-search
Menü
THERAPY-Magazin
Was hält uns im Gleichgewicht?

Erfahren Sie mehr über die Komplexität der Balance und posturalen Kontrolle: Wie Interaktionen von Motorik, Sensorik und Kognition die Stabilität beeinflussen und warum das Gleichgewicht im Alltag so entscheidend ist.

Author
Martin Huber
Freiberufler in der ambulanten Physiotherapie von neurologischen Patienten
„Balance” ist die Fähigkeit, Muskeln in einer angemessenen Amplitude und mit einem angemessenen Timing zu aktivieren
Die Kontrolle des Gleichgewichts gehört mit zu den faszinierendsten Fähigkeiten des Menschen. Das „Gleichgewichtssystem“ hat die Aufgaben, die Kontrolle des Schwerpunktes innerhalb der Unterstützungsfläche (sog. posturale Stabilität, s.u.) und die geeignete Stellung der Körperabschnitte zueinander und zur Umwelt zu gewährleisten (sog. posturale Orientierung, s.u.) [4]. Manche Autoren beschreiben „Balance” als die Fähigkeit, Muskeln in einer angemessenen Amplitude und mit einem angemessenen Timing zu aktivieren, um ein Fallen zu verhindern [19]. Nahezu alle menschlichen Bewegungen beinhalten in unterschiedlicher Ausprägung diese Anforderungen [6]. Deshalb ist die Gleichgewichtskontrolle inhärenter Bestandteil der meisten Alltagsaktivitäten.

Im Stehen und Gehen besteht eine der großen Herausforderungen darin, den relativ hoch gelegenen Körperschwerpunkt über der relativ kleinen Unterstützungsfläche (Füße) kontrolliert zu verlagern und zu bewegen.

Einschränkungen in der Balancefähigkeit haben weitreichende Folgen. So korreliert die Gleichgewichtskontrolle mit der Selbstständigkeit, der Lebensqualität und der Selbstwirksamkeit [14,20]. Fast alle neurologischen Krankheitsbilder haben Auswirkungen auf das Gleichgewicht. Aus diesem Grund sind das Training und die Verbesserung der Balance zentrale Ziele in der motorischen Neurorehabilitation.
Posturale Kontrolle meint die Durchführung „einer Handlung, um die Balance in jeder Haltung aufrecht zu erhalten"
Sprachgewirr? Balance, Gleichgewicht oder posturale Kontrolle?

In der Fachliteratur wird üblicherweise der Begriff „posturale Kontrolle“ (PK) verwendet. Die Begriffe „Gleichgewicht“ und „Balance“ werden jedoch häufig synonym eingesetzt (im vorliegenden Artikel ebenfalls). Balance ist definiert als „Fähigkeit einer Person nicht zu fallen“ [12]. Posturale Kontrolle geht weit darüber hinaus und meint die Durchführung „einer Handlung, um die Balance in jeder Haltung oder Aktivität aufrecht zu erhalten, zu erlangen oder wieder zu erlangen“ [12]. Nach Horak und Macpherson sind dafür zwei grundlegende Faktoren wichtig: die posturale Stabilität (aktive Stabilisierung des Körperschwerpunktes über der Unterstützungsfläche durch die Koordination sensomotorischer Strategien) und die posturale Orientierung (aktive Erhaltung einer angemessenen Stellung der Körperabschnitte zueinander und zur Umwelt (häufig auch als posturales Alignment bezeichnet) [3,8].
Erfassung der Komplexität – viele Teile im Zusammenspiel

Um die Komplexität der posturalen Kontrolle systematisch abbilden und analysieren zu können, schlagen viele namhafte Forscher und Forscherinnen vor, einen sog. Bezugsrahmen („Framework“) zu verwenden [4,9,15,17,18]. Eines der in der Fachwelt am weitesten verbreiteten Bezugsrahmen-Modelle ist von Shumway-Cook/Woollacott [5]. Darauf wird im Folgenden Bezug genommen.
Die motorischen Aspekte umfassen folgende Anteile [5]:
- aktive Aufrichtung gegen die Schwerkraft
- angemessene Stellung der Körperabschnitte zueinander und zur Umwelt
- aktive Kontrolle des Körperschwerpunktes über der Unterstützungsfläche durch die Koordination sensomotorischer Strategien (posturale Synergien) bei internen und externen Einflüssen
Interaktionsmodell – unterschiedliche Kontrollmechanismen und Aufgabenanforderungen

Nach Shumway-Cook & Woollacott ist posturale Kontrolle das Ergebnis der Interaktion von Individuum (Mensch, der sich bewegt), der Aufgabe (Aktivität), die durchgeführt wird, und der Umwelt, in der die Aktivität stattfindet [17]. Im Weiteren wird hierfür der Begriff „Interaktionsmodell“ verwendet.

Von Seiten des Individuums sind drei grundlegende Aspekte gefordert: Motorik (Aktion), Sensorik (Perzeption) und Kognition. Es werden hauptsächlich drei Formen von posturalen Synergien beschrieben: die Sprunggelenks- und Hüftgelenksstrategie und Schutzreaktionen (Schritte oder abstützen). Sie sind sowohl für die antizipative (vorhersehende) als auch für die reaktive posturale Kontrolle nötig [17]. Die antizipativen Anpassungen werden auch als „anticipatory postural adjustments“ (APAs) bezeichnet [11]. Sie sorgen für posturale Anpassungen vor der Durchführung einer fokalen Bewegung, z. B. eine Armhebung im Stehen (interner Einfluss). Die Extremitätenbewegung versetzt den Körperschwerpunkt in Bewegung. Diese „Störung“ wird im Voraus berechnet und die entsprechenden Muskeln zur Sicherung der posturalen Kontrolle werden aktiviert. Zentral hierbei ist eine funktionierende Sprunggelenksstrategie. Sie definiert den Raum, in dem der Schwerpunkt mit einer aufgerichteten Körperhaltung (Alignment) kontrolliert verlagert werden kann. Dieser potentielle Bewegungsraum wird als „Konus der Stabilität“ bezeichnet [16]. Er definiert die Stabilitätsgrenzen im Stand. Alle Aktivitäten im Stand (Armbewegungen, Gewichtsverlagerungen usw.) finden in diesem Bewegungsraum statt. Je größer er ist, umso besser ist das Gleichgewicht.

Ebenfalls wichtig ist die Reaktion auf externe, unvorhersehbare Einflüsse. In diesen Situationen ist beispielsweise die Durchführung eines schnellen Schutzschrittes sehr wichtig (reaktive posturale Kontrolle) [10].
Die sensorischen Aspekte umfassen folgende Anteile [5]:
- Integration des sensorischen Inputs aus den unterschiedlichen Informationsquellen: Visus, Gleichgewichtsorgane und Somatosensorik (Propriozeption und Oberflächensensibilität).
- Sensorische Gewichtung (je nach Situation gewichtet das ZNS den sensorischen Input anders. In einem dunklen Raum z. B. muss der somatosensorische Input höher gewichtet werden als der visuelle Input)
- Körperschema (innere Repräsentation des Körpers)
Die kognitiven Aspekte umfassen folgende Anteile [5]:
- Dual- bzw. Multiple-Task-Fähigkeit: Im Alltag sind wir gefordert, uns an eine sich ständig verändernde Umwelt anzupassen [15]. Dazu ist eine Teilung der Aufmerksamkeit unerlässlich. Ein Teil der Aufmerksamkeit „bleibt“ bei der PK, ein anderer Teil ist der Umwelt zugewandt.
- Selbstwirksamkeit: Sich selbst fähig fühlen, Kontrolle über Handlungen ausüben zu können, lässt uns als selbstwirksam erleben. Die erlebte Selbstwirksamkeit bestimmt, wie wir uns verhalten und wie wir Situationen einschätzen und mit ihnen umgehen [7].
Einflüsse von Umwelt und Aufgabe

Da Bewegungen immer in einer Umwelt stattfinden, beeinflusst auch dieser Aspekt maßgeblich die posturale Kontrolle. Therapeutisch gesehen besteht die Herausforderung darin, einzuschätzen, welche Umweltfaktoren relevant und damit besonders zu berücksichtigen sind. So hat die Art des Untergrunds große Auswirkungen auf die PK. Unterschiedliche Anforderungen entstehen, wenn der Untergrund beispielsweise labil oder stabil, eben oder schräg, rutschig oder fest usw. ist. Beeinflussend können auch Ablenkungen (andere Menschen), der Einsatz von Hilfsmitteln (Stock, Rollator) oder die Lichtverhältnisse sein.

Die Aufgabe kann bezüglich der posturalen Kontrolle nach folgenden Kriterien strukturiert werden: steady state (statisch), dynamisch-antizipativ und dynamisch-reaktiv [17]. Dies sind die sog. „Balancemechanismen“. Mit ihnen kann die ganz grundlegende „Natur“ der (Balance-)Aufgabe bezeichnet werden. Weitere relevante Aspekte der Aufgabe sind Einsatz der oberen Extremitäten, Lagewechsel (drehen im Stand, aufstehen/hinsitzen), verschiedene Arten des Gehens u. ä. Aufgaben, die häufig zu Balanceschwierigkeiten bis hin zu Stürzen führen, sind: Übergang Sitz-Stand, Drehen, Gehen [1,2,13].
balo
coro
Produkte
senso
Standing & Balancing
Therapie & Praxis
THERAPY Magazin
Author
Martin Huber
Freiberufler in der ambulanten Physiotherapie von neurologischen Patienten
Martin Huber ist Physiotherapeut und hat 2007 den Master of Science in Neurorehabilitation erworben. Als Therapeut behandelt er hauptsächlich Patienten mit Schädigungen des Zentralen Nervensystems. Seit 2010 ist er freiberuflich in der ambulanten Physiotherapie bei neurologischen Patienten tätig. Bereits vor einigen Jahren berichtete er in renommierten Fachzeitschriften über posturale Kontrolle und aufgabenorientierte Therapie und ist als Referent bei diversen nationalen Physiotherapiekongressen vertreten.
References:
  1. Batchelor (2012) Falls after stroke. International Journal of Stroke.
  2. Cheng F-Y. (2014) Factors Influencing Turning and Its Relationship with Falls in Individuals with Parkinson’s Disease. PLoS ONE 9(4): e93572
  3. Horak FB. (2006) Postural orientation and equilibrium: what do we need to know about neural control of balance to prevent falls? Age and Ageing 35 (Supplement 2)
  4. Horak FB. (2009) The Balance Evaluation Systems Test (BESTest) to differentiate balance deficits. Phys Ther.89: 484-498
  5. Huber M. (2014) Posturale Kontrolle. pt Zeitschrift für Physiotherapeuten 66(5): 12-23
  6. Huber M. (2016) Posturale Kontrolle – Grundlagen. neuroreha 8: 158162
  7. Huber M. (2017) Yes, I can. Selbstwirksamkeit und posturale Kontrolle. physiopraxis 10
  8. Macpherson (2013) Posture. In: Kandel E. Principles of Neural Science. 5th edition McGraw-Hill
  9. Mancini (2010) The relevance of clinical balance assessment tools to differentiate balance deficits. Eur J Phys Rehabil Med. 2010 June; 46(2): 239-248
  10. Mansfield A. (2007) A perturbation-based balance training program for older adults: study protocol for a randomised controlled trial. BMC Geriatr. 7: 12
  11. Massion J. (1992) Movement, posture and equilibrium: interaction and coordination. Prog Neurobiol 38: 35-56
  12. Pollock A et al. (2000) What is balance? Clinical Rehabilitation 14: 402-406
  13. Robinovitch SN. (2013) Video capture of the circumstances of falls in elderly people residing in long term care: an observational study. Lancet 381(9860): 47-54.
  14. Schmid (2012) Balance and Balance Self-Efficacy Are Associated With Activity and Participation After Stroke: A Cross-Sectional Study in People With Chronic Stroke. Arch Phys Med Rehabil. 93(6):1101-7
  15. Schoneburg B. (2013) Framework for understanding balance dysfunction in Parkinson’s disease. Mov Disord Early view
  16. Schwab (2010) Adult Spinal Deformity – Postoperative Standing Imbalance. SPINE Volume 35, Number 25, pp 2224-2231
  17. Shumway-Cook A, Woolacott M. (2016) Motor Control. 5th edition. Lippincott Williams & Wilkins
  18. Sibley (2015) Using the Systems Framework for Postural Control to Analyze the Components of Balance Evaluated in Standardized Balance Measures: A Scoping Review. Archives of Physical Medicine and Rehabilitation 96: 122-32
  19. www.webb.org.au
  20. Weerdesteyn (2008) Falls in individuals with stroke. JRRD 45(8): 1195